Montag, 22. Januar 2007

Fleischgewordene Blicke

... ich selbst habe jahrelang in einem haus gewohnt in dessen erdgeschoss ein ehepaar lebte, dass sich - wodurch auch immer - in ein mythisches schwellenphänomen verwandelt hat. es war der fleischgewordene blick selbst - immer saß es am fenster und verfolgte unausgesetzt sämtliche vorgänge auf der strasse, mustere jeden ersichtlichen fall und mögliche abweichungen desselben. regungsloser noch als seine frau war der alte. immerzu rauchend starrte er unverwandt alles und jeden an, der vorüberging. bemerkenswert an diesen schwellengeistern war vor allem die immunität ihres blicks. ich selbst habe ihn einmal in einem verwegenen moment auf die probe gestellt, den indianerblick, um zu prüfen, wer von uns zuerst wegschaute. da ich aber nicht stehen bleiben wollte, um die prüfung in eine demonstation zu transformieren - ich befand mich auf dem heimweg - war ich es, der im kräftemesse der blicke unterlag, denn irgendwann hatte ich ja die haustür erreicht und musste eintreten. bis zu diesem moment aber lagen vier augen auf mich geheftet, so wie sie es immer taten, wenn ich - oder auch jemand anderes kam - nur diesmal mit dem unterschied, dass ich die blicke bis zur letzten sekunde erwiderte. es war nicht möglich, diese vorherschaft der schwellenobservation zu brechen. es war auch niemals möglich, außer zu den mahlzeiten, unerkannt am haus vorüberzugehen, wenn es tag war. nur nachts und wie gesagt zu den mahlzeiten waren die fenster geschlossen. so gewann das ehepaar eine art omnipräsenz, von beinahe ontologischem status. beinahe nur deshalb, weil sie mythisch blieb. denn ich habe mir sagen lassen, von freunden, die schon weitaus länger in dieser gegend wohnten als ich und teilweise sogar ihre kindheit dort verbracht hatten, dass das ehepaar immer schon da gesessen hatte, um den alltag zu bezeugen. allezeit. und den mythischen status wussten sie sich auch dadurch zu sichern, dass sie die kommunikation - auf die du als mögliche anbahnung zu sprechen kamst - schlichtweg nicht zuließen. höflicherdings hatte ich ja als neu zugezogener mieter mir nicht erlaubt, an der fensterschwelle vorüber zu gehen ohne einen gruß hinauf zu entsenden. "tag!" (als wäre der gruss ein nomen ihrer mythischen zeitform) aber alles was ich zurück erhielt, war allenfalls ein einräumendes nicken der alten. ihr mann blickte weiterhin so unverwandt steinern wie eh und je, jedoch nicht ohne mich dabei weiterhin steif zu mustern. zuerst dachte ich, er sei vielleicht taub. darum nickte ich einige male übertrieben stark beim grusse, fast äffisch, wie ein höfling, doch umsonst. wenn ich auch die alte manchmal stöhnen zu hören glaubte und in dem vermeintlichen stöhnen die stockende genese einen grusses, so war bei dem alten niemals daran zu zweifeln, dass er zu keinem zeitpunkt auch nur ansatzweise zeichen eines grusses vorbereitete. es fiel mir nicht leicht, das zu akzeptieren. nicht weil ich mich dadurch persönlich gekränkt fühlte, unfassbar erschien mir die fehlende möglichkeit, den alten zu einer geste welcher art auch immer zu bewegen. er, der tägliche zeuge meines kommens und gehens verweigerte jede beziehung, die sich nicht auf schweigen und blicke begrenzte. wie ein pförtner der ewigen wiederkehr - immerzu rauchend - lehnte er auf seinem fensterpolster, neben sich die alte, die ich manchmal auch im treppenhaus traf. sie stellte sich als ein barsches wesen heraus. einmal - ich kam gerade von einem einkauf nach hause - hatte ich die haustür gerade geöffnet, da sah ich sie das treppenhaus herunterkommen. sie wohnte im erdgeschoss, so dass es sich also nur um 5 oder 6 stufen handelte, die sie gerade im begriff war, hinabzusteigen - in der einen hand eine mülltüte, in der anderen das geländer. ich blieb in der tür stehen, um sie der alten aufzuhalten. ich erwartete für meine hilfsbereitschaft keinen dank, ich sah ja, dass sie mühe hatte, doch wie verblüfft war ich, als sie mich plötzlich anbellte: "menschenskind! eine alte frau ist doch kein d-zug!" es war nicht zu fassen, sie hatte meine hilfsbereitschaft als eine herausforderung verstanden, sich zu beeilen - und damit als blanken hohn: als ob ich durch mein warten in der türe ihre langsamkeit verhöhnte, als sei meine entgegenkommen nur ein spott auf ihr gebrechen! verdutzt erwiderte ich, sie könne sich ruhig zeit lassen, ich hätte keine eile - was natürlich ihren verdacht nur bestärken musste... das war das einzige mal, dass sie zu mir sprach. bald darauf starb der alte und die frau musste ins altersheim.

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